Innen und Aussen in Balance

Gerald Kaschowitz

Was macht Räume lebendig?

Diese Frage hat uns im LiFT-Projekt über mehrere Jahre intensiv begleitet, auf der Suche nach Dialogverfahren, die echte Begegnung ermöglichen und die die Beteiligten mit mehr Energie wieder verlassen, als sie mit hineinbrachten. Im integralen politischen Salon (IPS) mit Gerald Kaschowitz im Dezember 2022 begegnete uns diese Frage nun wieder – in Verbindung mit der Frage, was visionäre Projekte oder Organisationen erfolgreich macht.

Anlass für den Salon war die Pioneers of Politics Premiere des Interviews, das Harald Schellander im Rahmen von LiFT Politics mit Gerald Kaschowitz geführt hatte. Kaschowitz ist Osteopath und Mitgründer des Hauses für ganzheitliche Medizin in Sankt Veit an der Glan/Österreich sowie Organisationsberater. Neben verschiedenen therapeutischen Ausbildungen hat er auch den integralen Social Architects Lehrgang durchlaufen. In dem vor Weihnachten erstmals ausgestrahlten Interview und dem darauffolgenden Salon ging es daher vor allem darum, was wir von der Natur für unser Menschsein und die Entwicklung unserer Organisationen, Projekte und Bewegungen lernen können.

Als roter Faden zog sich dabei die Embryologie, eines von Geralds Spezialgebieten, durch den Abend. Sie lehrt uns einige Grundprinzipien der Entwicklung, wie Metamorphose, Transformation und Emergenz. Anhand der embryonalen Entwicklung zeigte Gerald auf, dass jedes Organ (jede natürliche Einheit) so etwas wie eine optimale Größe hat, innerhalb derer es (sie) sich zunächst nach innen ausdifferenzieren muss, bevor es (sie) weiter wachsen kann. Dasselbe, so seine These, gelte auch für Organisationen.

Unsere Besessenheit von äußerem Wachstum lässt uns häufig vergessen, auch die innere Entwicklung, Balance und Gesundheit unserer sozialen Einheiten regelmäßig zu nähren und zu pflegen. Hierzu ist nicht selten vordergründiges Nichtstun – Innehalten – das Mittel der Wahl. Denn erst wenn wir Raum schaffen, um unsere Essenz und unsere Ressourcen wahrzunehmen und bewusst zu spüren, können wir ihre natürliche Entfaltung auch sinnvoll begleiten und unterstützen.

Dies steht dem verbreiteten Versuch, quantitatives Wachstum in kürzester Zeit zu erzeugen, etwa durch entsprechende Businesspläne, aggressives Marketing usw., diametral entgegen. Vielmehr, so Kaschowitz, zeigt uns die Embryologie: neue Strukturen werden stets so ausgebildet, dass sich die Essenz, ihre inhärente Idee, zeigen und entfalten kann. Dies geschieht indes weitgehend ohne aktives, gezieltes Zutun von außen. Vielmehr vergleicht er den organischen Wachstumsprozess mit einem Tanz, der nicht anstrengend, sondern vielmehr leicht und spielerisch verläuft. Ein Impuls erzeugt eine Resonanz, und daraus entsteht etwas Neues, drittes. Auch bringt der natürliche Wachstumsprozess zumeist nicht gleich eine endgültige Form hervor, sondern durchläuft wechselnde Formen, je nachdem, was die aktuelle Wachstumsphase gerade braucht, im Blick auf die schrittweise Differenzierung und Entfaltung der inhärenten Idee.

Es handelt sich also um eine „hochdynamische Aktivität“, die – wenn überhaupt – von einer inneren Intelligenz gesteuert wird, deren Hauptkennzeichen nicht eigenes Wollen ist, sondern der Dienst an der Entfaltung des Lebens. Sehr anschaulich illustriert Gerald Kaschowitz dies anhand der Reihenfolge, in welcher sich im Embryo Organe entwickeln: Das erste Organ, das entsteht, ist das Herz. Es befindet sich zu Beginn „am Kopf“ des Organismus. Erst später räumt das Herz dann den Platz für den eigentlichen Kopf. Es verneigt sich gleichsam in einer Art „Demutsgeste“ und tritt nun an seine spätere, dauerhafte Stelle im Zentrum des Brustraums. Dabei bleibt es stets die zentrale, alles erhaltende und bedingende Kraft des Lebens.

 

Zu viel, zu schnell, zu aktiv… Woran scheitern manche visionären Projekte wirklich?

Was bedeutet dies für die Entwicklung von Organisationen? Einige konkretere Beispiele aus dem Interview sollen hier nicht vorweggenommen werden. Kaschowitz‘ Kernbotschaft besteht jedoch in dem Appell, das „Herzzentrum“, die innere Herzkraft in unseren Strukturen viel stärker zu kultivieren. Um eine Organisation auf eine gute, belastbare Grundlage zu stellen, rät er dazu, einen offenen Raum in ihrem Inneren zu schaffen und zu pflegen, der nicht von Ansprüchen, Sachzwängen und Zielvorgaben überfrachtet ist. Es brauche eine „terminfreie Zone“, frei von Funktionalisierung, „wo sich alle treffen, ohne Ausrichtung auf das Ziel“, um zunächst das Innere zu ernten und zu spüren: „Was ist unsere Energie miteinander? Was will entstehen? Was können wir wirklich, wirklich machen? Nicht zielorientiert, sondern ressourcenorientiert“.

Erst wenn dieser Raum hergestellt ist für eine gute Kommunikation im und mit dem Innen, der es erlaubt, sich untereinander zu fühlen und mit den inhärenten Wachstumsimpulsen und den damit einhergehenden Bewegungen in Verbindung zu treten, sollte bzw. kann man wirksam in Aktionen nach draußen gehen. Kaschowitz bezeichnet derartige Räume als „heilendes Prinzip“. Sie zu pflegen bedeutet, den (persönlichen und/oder organisationalen) „Innenraum vom Müll alter Antworten zu befreien“. Stattdessen erlaubt integrale „Raumpflege“, die Dinge immer wieder neu anzuschauen, die Neugierde an Bord lassend, mit Impuls und Bewegung zu arbeiten, einschließlich starker Emotionen, ohne immer sofort nach einer klaren Antwort zu suchen.

Gerade für visionäre, integrale Projekte erscheinen diese Einsichten daher wegweisend. Gerade wo es um tiefe Veränderung geht, ist weniger (Aktion) oft mehr. Und erst eine tiefe Wertschätzung der inneren Dynamik, des Herzschlags der Organisation, ermöglicht klares und kraftvolles Agieren im Außen. – Ein angenehmer Nebeneffekt dieser Seinsweise ist, dass sie nicht in die Überarbeitung oder den Burnout führt, im Gegenteil. Von einem Rhythmus, den natürliche, innere Energien antreiben, braucht man keine Erholungspausen. Vielmehr ist er selbst nährend und energetisierend.