Ein integrales Upgrade für die Demokratie

Buchcover

BUCHREZENSION: Claudine Nierth / Roman Huber – Die zerrissene Gesellschaft.
So überwinden wir gesellschaftliche Spaltung im neuen Krisenzeitalter

Claudine Nierth und Roman Huber, Vorstände der bekannten Nichtregierungsorganisation Mehr Demokratie, haben ein Plädoyer für ein Update der demokratischen Kultur geschrieben, das zentrale Elemente integraler Politik aufgreift. Sie nennen ihre Vision eine „Demokratie der Zuneigung“, mit der sie dazu beitragen wollen, den Boden für einen fruchtbaren Dialog über wichtige gesellschaftliche Themen zu bereiten. Oder anders ausgedrückt: Es geht darum, den „gemeinsamen Rahmen für eine produktive Auseinandersetzung“ dort wieder zu verbeitern und zu vertiefen, wo er so schmal geworden ist, dass manche Menschen sich weigern, sich mit anderen Menschen an einen Tisch zu setzen, weil letztere andere Ansichten vertreten als sie selbst (S. 25).

Nierth und Huber gehen von der verbreiteten Beobachtung einer vielfach gespaltenen – oder wie es im Buchtitel heißt, „zerrissenen Gesellschaft“ aus, in welcher sich die Dysfunktionalitäten der heutigen Politik etwa in Form von Schwarz-weiß-Denken, dem Drang des politischen Personals zu Selbstdarstellung, wie auch zu „Faktenverschlucken“ zugunsten der Parteiraison äußern. Ihre Diagnose und damit die beiden Kernthesen des Buches lauten:

  • „Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen äußeren Konflikten und inneren Abläufen.“ Wenn beides nicht in einem „gesunden Flow“ ist, entstehen Konflikte, bis hin zu Spaltung (S. 28f.)
  • „Die innere Auseinandersetzung mit den äußeren Herausforderungen muss politisch und von öffentlichem Interesse werden!“ (S. 19)

Auf dieser Grundlage plädieren Nierth und Huber für ein „Update, vielleicht sogar ein neues Betriebssystem“ der Politik, das Innenräume und Außenräume verbindet.

Dies sind weitgehende, kraftvolle und extrem erfreuliche Forderungen von den Vorsitzenden eines Vereins, der 1988 vor allem mit dem Ziel gegründet wurde, in Deutschland mehr Partizipation über direkte Demokratie und Volksentscheide zu ermöglichen. Denn mit den oben genannten Thesen beschreiben Claudine und Roman gleichsam wichtige Eckpunkte eines integralen Paradigmas von Politik. Dass man den Begriff „integral“ in ihrem Buch vergeblich sucht, liegt dem Vernehmen nach vor allem daran, dass es seitens des Verlags einige Vorgaben bezüglich Umfang und möglichst niederschwelliger Lesbarkeit gab.

Wie ich in meinen „10 Thesen für ein neues politisches Betriebssystem“ ausführe (siehe POP-Video vom 5.9.2023 und das Buch „Integrale Politik“), erfordert eine komplexere Sicht auf die Welt zuvorderst die Einbeziehung aller Quadranten, insbesondere der im „alten Paradigma“ von Politik (politics as usual) so stark vernachlässigten inneren Quadranten. Dazu gehören alle unsere Bewusstseinsinhalte, wie Wahrnehmungs- und Denkmuster, Werte und nicht zuletzt Emotionen. Letztere stehen bei Nierth und Huber besonders im Fokus. – Zu Recht, denn im einzelnen rollen die beiden Autoren die banale, aber wichtige Einsicht aus, dass jedes politische Handeln von Emotionen und unerfüllten Bedürfnissen geprägt ist. Die wiederum können – vom Verhalten anderer getriggert – automatisierte Reaktionen und Verhaltensmuster usw. hervorbringen, die dann mehr dem Selbstschutz als der Lösung konkreter Probleme dienen. Wird dies nicht bewusst und transparent gemacht und idealiter aufgelöst, führt es fast zwangsläufig zu Spannungen und Konflikten.

Gerade in unseren heutigen Gesellschaften so verbreitete Phänomene wie Vereinzelung und Politikverdrossenheit, Polarisierung und die mit ihr zum Teil einhergehende Verhärtung politischer Sichtweisen und Positionen haben ihre Ursache häufig weniger in Sachfragen. Vielmehr speisen sie sich aus tieferen, nicht gesehenen/erfüllten Bedürfnissen, unaufgeräumten inneren Konflikten und ungeklärten Emotionen wie z.B. „Angst, Neid, Gier, Egoismus, Eitelkeit, Sturheit, Geltungsdrang“ usw. Es ist mithin ein Markenzeichen unser politics as usual, dass derlei Emotionen nicht beachtet, teilweise nicht einmal wahrgenommen und erst recht nicht konstruktiv bearbeitet werden. Stattdessen werden sie nach außen projiziert und dann in Form von Vorwürfen und politischen oder persönlichen Angriffen beim politischen Gegner abgeladen.

Im Rahmen von Deep Democracy wird hierfür gerne das Freudsche Modell des „mentalen Eisbergs“ verwendet, in dem der überwiegende Teil unserer inneren, geistigen Regungen und Antriebskräfte unter- oder unbewusst bleibt.

Es ist daher ein zentrales Anliegen von Deep Democracy, die Demokratie dadurch zu vertiefen, dass man gleichsam die Wasserlinie absenkt, also auch die unter- und unbewussten Aspekte ins Blickfeld holt. Hierzu braucht es in der Regel besonders geschützte Räume, in denen die Beteiligten nicht fürchten müssen, bloßgestellt oder angegriffen zu werden.

Allein – wie es eine Teilnehmerin unseres Runden Tisches am 12.9.2023 treffend formulierte, derartige, von Achtsamkeit und Wertschätzung geprägte Räume sind eigentlich genau das Gegenteil dessen, was derzeit im politischen Alltag die Regel ist. Wie wohltuend ist daher Nierths und Hubers Plädoyer, „das Wissen um die menschliche Seele in unseren politischen Werkzeugkasten auf(zu)nehmen“ und die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, unbewältigte Schatten zu bearbeiten! Sie plädieren damit also im Grunde für ein erweitertes Politikverständnis auf der Basis einer integralen, ganzheitlichen Anthropologie.

Diese kann seit Sri Aurobindo durch mindestens zwei zentrale Bausteine umrissen werden: Erstens postuliert Aurobindo das gleichberechtigte Nebeneinander von vier Grundbedürfnissen: materielle, emotionale (interpersonelle), mentale und spirituelle, wobei letztere nicht auf materiellem Weg befriedigt werden können. Und zweitens eine evolutionäre Perspektive auf unser Mensch- und in-der-Welt-Sein, wonach erst die Ausrichtung auf ein höheres (unsere unmittelbaren persönlichen Bedürfnisse übersteigendes) Ziel unserem Dasein Sinn und Antriebskraft gibt. Aus integraler Sicht sollte Politik demnach dieses Bestreben – und entsprechende Entwicklungsschritte – fördern und dabei helfen, innere und äußere Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Insofern hat gute Politik und gute Führung sehr viel mit persönlicher Entwicklung zu tun.

Nicht zufällig betonen auch Roman und Claudine ganz richtig: „jeder Schatten, jedes Trauma, jede Beziehungsinkompetenz der Führung überträgt sich auf das gesamte System“. Daher müssen „die tieferen Schichten hinter den Konflikten gelöst werden“, wenn diese selbst dauerhaft gelöst werden sollen (S. 77).

Ein zentraler Begriff in ihrem Buch ist denn auch der des Traumas als einem besonders wirkmächtigen Komplex politisch wirksamer emotionaler Belastungen. Nierth und Huber verwenden den Traumabegriff recht breit und beziehen dabei sowohl persönliche, als auch intergenerational übertragene Traumata mit ein. In ihrem Verständnis entsteht Trauma immer dann, wenn eine Erfahrung gemacht wird, die den normalen Verarbeitungsprozess überfordert („zuviel, zu schnell, zu plötzlich“, S. 107). Dies kann durch überwältigende Ereignisse oder Lebenskrisen ausgelöst werden, in denen es keinen oder keinen angemessen geschützten und unterstützenden Raum gibt, um die betreffenden Erlebnisse integrierend zu verarbeiten.

Solche Erfahrungen werden dann im Körpergedächtnis abgespeichert – ebenso wie die Reaktion darauf. Sobald ein äußerer Trigger auftaucht und die entsprechende körperliche Erinnerung anstößt, wird dann der gesamte Reiz-Reaktions-Mechanismus auf der physischen Ebene automatisch wieder aktiviert. Daher, so die Autoren, löse jede Erinnerung an ein altes Trauma unmittelbar typische Überlebensreflexe aus, z.B. Flucht, Kampf oder Erstarren. Diese wiederum stehen allesamt im Gegensatz zu den eigentlich wünschenswerten demokratischen Kompetenzen, wie Offenheit, Toleranz, Perspektivenübernahme, Dialogfähigkeit etc.

Es ist ein Verdienst des Buches von Claudine Nierth und Roman Huber, diese Zusammenhänge überaus einfach und in für Laien verständlicher Weise zu erklären. Hierzu tragen nicht zuletzt zahlreiche persönliche Erfahrungen und Anekdoten, wie auch mehrere Kästen mit praktischen Tipps und Übungen bei, zum Beispiel um zu erkunden, wo der oder die Leser:in möglicherweise durch eigene Traumaerfahrungen getriggert wird. Die politische Relevanz traumatischer Erfahrungen wird nicht zuletzt durch kurze Exkurse in die Geschichte verschiedener Länder verdeutlicht, wie etwa der DDR, der USA, Chinas und Indiens sowie auf das Erbe des Kolonialismus („unsere Kultur ist eine aggressive Erobererkultur“, S. 145). – Ein deutlicher Hinweis darauf, wie verbreitet das Problem – und wie unterbelichtet es dennoch einstweilen in der öffentlichen Wahrnehmung ist.

Mit diesem breiten Panorama von Aspekten einer „Innensicht“ auf die Demokratie ziehen Nierth und Huber auch eine Zwischenbilanz der Aktivitäten des bei Mehr Demokratie seit einigen Jahren neu entstandenen Arbeitsbereichs „Demokratische Kultur“. Dazu gehören etwa das Format „Sprechen und Zuhören“, systemische Politikaufstellungen, ebenso wie der 2022 durchgeführte (und von IFIS im Rahmen des LiFT Politics-Projekts mitorganisierte und begleitete) Workshop zu Traumaintegration und demokratische Kompetenzen. Diese Formate ergänzen den Trend hin zu mehr ganzheitlicher Partizipation und zu einer Vertiefung der demokratischen Kultur, wie sie Mehr Demokratie derzeit dankenswerterweise in Form der losbasierten Bürgerräte erheblich voranbringt.

Eine der zentralen Fragen lautet daher: „Wie können wir agile Lernschleifen in unsere Systeme designen?“ Da komplexe Probleme das bisher übliche lineare Problemlösungsdenken übersteigen – ebenso wie unsere bisherigen, hiervon informierten Gesetzgebungsprozesse: wie können wir unsere Systeme bereit machen für komplexere Denk- und Lösungsfindungsansätze?

Robert Habeck sagte kürzlich, das eigentliche Problem sei die Art, wie Politik funktioniert, d.h. das Denken in Wettbewerb, Nullsummenspielen, Selbstdarstellung und dem permanenten Reflex des bashing gegen politische Gegner. Dies verweist auf Nierths und Huberts Beobachtung, dass Krisen auch „entstehen (können), wenn ein nächster Entwicklungsschritt ansteht, aber nicht vollzogen wird“ (S. 38), wenn also alte Strukturen und Verhaltensmuster beibehalten werden, obwohl die konkreten Herausforderungen nach neuen Denkweisen und Lösungen verlangen. Genau dies ist momentan ganz offensichtlich fast überall der Fall.

Das Festhalten an überkommenen Verhaltensmustern kann im übrigen durchaus auch durch bestehende, nicht integrierte Erfahrungen oder Traumata begünstigt werden. Nierth und Huber bezeichnen diese als „inneren Schatten (der) unsere Evolution verhindern oder zumindest in einem erheblichen Ausmaß beeinträchtigen“ kann (S. 39).

Auch diese Beobachtung impliziert eine integrale, im Buch freilich ebenfalls nicht sehr explizit ausbuchstabierte Grundannahme, nämlich dass Demokratie in stetiger Entwicklung begriffen ist. Sehr klar wird demgegenüber, dass gerade eine emotional bewusstere und kompetentere demokratische Kultur an ihren Herausforderungen wachsen könnte und sollte, hin zu neuen, zu den Herausforderungen passenden Verhaltensweisen und Lösungen. Wörtlich schreiben beiden Autoren: (die Organisation) „Mehr Demokratie wünscht sich einen Wechsel auf die nächste Ebene“. Es brauche „eine Grunderneuerung, in der eine fühlende Verbindung mit allem Sein oberste Maxime wird und der Außenraum als Spiegel des Innenraums interpretiert wird.“ (S. 218f.).

Dass ein entsprechendes Update (oder Upgrade) der Demokratie im Grunde einem nächsten Entwicklungsschritt gleichkommt, ist eine wesentliche Annahme integraler Politik. Es ist eine sehr gute Nachricht, dass integrale Ideen zur Transformation unserer politischen Kultur von Claudine Nierth und Roman Huber nun aufgegriffen und für eine breite Öffentlichkeit anschlussfähig gemacht werden.