Ein dickes Brett haben wir im letzten Integralen Politischen Salon gebohrt – oder besser: angebohrt, denn die Arbeit mit und an kollektiven Schatten erfordert letztlich ein stetiges, tieferes Bemühen als es im Rahmen eines einzigen Online-Salons leistbar ist.
13 mutige Pioniere hatten sich versammelt, um mit Hilfe von Deep Democracy gemeinsam Schattenthemen im deutschen politischen Diskurs zu erkunden und etwas mehr Licht auf schwierige Emotionen, eigene Projektionen und Widerstände zu werfen. Als Beispiel hierfür betrachteten wir hierbei – nach einer Einführung in einige Prinzipien von Deep Democracy und ihre Anwendungsmöglichkeiten – die politische Polarisierung im Umgang mit der AfD.
Deep Democracy ist eine auf die Prozesspsychologie des Physikers und Psychotherapeuten Arnold Mindell zurückgehende Methode zur Konflikttransformation. Sie geht davon aus, dass für Veränderungsprozesse „relevante Informationen erst im Zusammenspiel von scheinbar unvereinbaren Positionen hervortreten“ (https://www.moment-by-moment.de/deep-democracy-wandel-durch-widerstand/). Indem sie ausreichend sichere Räume schafft, möchte sie es allen beteiligten Personen und Gruppen ermöglichen, „ihre individuellen Positionen, Emotionen, Wünsche, Wahrnehmungen und Ideen frei zum Ausdruck (zu) bringen, ohne sich von möglichen Reaktionen anderer Gruppenmitglieder abschrecken oder blockieren zu lassen“, so Christiane Leiste, Deep Democracy Trainerin aus Hamburg. Ziel ist es alsdann, in einem Austausch und einer vertieften Auseinandersetzung mit diesen Positionen „in scheinbaren Widersprüchen neue Lösungen und Wege zu entdecken, die die ganze Gruppe transformieren können“. Auf diese Weise kann aufkeimender Widerstand zum Motor von Entwicklung gemacht werden.
Wie also kann Deep Democracy dabei helfen, unsere Demokratie zu vertiefen? Und was heißt das für den Umgang mit der AfD?
Laut einer Statista-Umfrage (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1067107/umfrage/umfrage-zur-meinungsaeusserung-in-deutschland/) waren im Jahr 2023 nur „40 Prozent der Befragten der Meinung, dass man in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann. Das“, so Statista, „ist der niedrigste Wert seit 1990, als dieser Aussage noch 78 Prozent zustimmten." Demgegenüber waren mit 44 Prozent im Jahr 2023 ersmals mehr Menschen "der Meinung, dass es besser ist, vorsichtig zu sein, wenn es um die Äußerung der politischen Meinung geht.“ Einzige Ausnahme: Wähler/innen der GRÜNEN sind überzeugt, ihre Meinung in Deutschland frei aussprechen zu können (75 gegenüber 19 Prozent).
Was also tun die 44%, sofern sie ihre von einem wahrgenommenen Mehrheitsdiskurs abweichende Meinung tatsächlich nicht äußern?
Einen Vorgeschmack hierauf gab die unter den Workshop-Teilnehmenden durchgeführte Blitzumfrage nach ihren Reaktionen auf eine persönliche Erfahrung des Nicht-Gehört oder Nicht-Berücksichtigt-Werdens:
Auch wenn diese Umfrage alles andere als repräsentativ war, so neigen doch auffallend viele Menschen dazu, sich zurückzuziehen, also aus dem Kontakt zu gehen, anstatt ihre abweichende Meinung kundzutun. Nur eine kleine Minderheit gibt an, politisch aktiv zu werden – oder gar, wie es die Gründer/innen der AfD einst taten, eine Partei zu gründen. Vielmehr folgen auf die Tendenz zum „Rückzug“ häufig verdeckte oder auch sichtbarere Formen des Widerstands.
Deep Democracy beschreibt eine Skala typischer Widerstandsformen, von subtil-verdeckt über zunehmend offen bis gewalttätig. Die Skala gipfelt in der These, dass „ein Terrorist letztlich ein nicht gehörter Mitbürger“ ist. Wie gut also sind wir als Gesellschaft in der Lage, nicht gehörten Perspektiven und Anliegen Raum zu geben, bevor es zu einer derartigen Eskalation kommt?
Im Workshop erforschten wir daher entsprechende Erfahrungen der Teilnehmenden – und Themen, bei denen auch sie selbst dazu neigen, „vorsichtig zu sein“, anstatt eine Meinung oder Sichtweise offen zu äußern. Unter anderem betraf dies den Wunsch, „ausgleichende Perspektiven“ einzubringen „in Kontexten, die dem Anschein nach nur polarisieren wollen“. Damit bezog sich eine Teilnehmerin auf die Erfahrung, dass ein Vertreter der AfD in ihrer Stadt ungeachtet seines außerordentlich konstruktiven Beitrags zu einer Veranstaltung hierfür nicht gewürdigt, sondern vielmehr von den Vertreter/innen der anderen Parteien nachträglich ausgegrenzt wurde.
Sehen wir hier also gleichsam eine Überreaktion – aus Sorge, auf keinen Fall der Sympathie für das Schmuddelkind der deutschen Politik verdächtigt zu werden? Wenn ja, was macht dies mit unserer Gesprächskultur – und mit unserer Demokratie?
In unserem seit 2022 laufenden EU-Projekt Cohere+ unterscheiden wir zwischen Kohärenz und Kohäsion in Gruppenprozessen, wobei sich Kohärenz durch die Fähigkeit von Gruppen auszeichnet, Spannungen produktiv bearbeiten und integrieren zu können. Demgegenüber entsteht Kohäsion, wenn auftauchende Spannungen ignoriert, "wegmoderiert" oder ihre "Verursacher" ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden. Während Kohärenz Komplexität willkommen heißt, versucht Kohäsion, sie auf einfache Polaritäten zu reduzieren.
Kohärenz herzustellen bedeutet demnach auch, Schatten - als Teil der Komplexität von Wirklichkeit - aufmerksam zu betrachten, ihre Botschaften zu erforschen und ihren Gehalt konstruktiv ins (kollektive) Selbstbild zu integrieren. Hiervon ist die deutsche Gesellschaft und Politik beim Thema AfD allem Anschein nach noch weit entfernt. Vielmehr scheint sie sich zunehmend in Richtung "Kohäsion" zu bewegen: Der öffentliche Raum fordert seine Teilnehmer/innen immer stärker zu einer entweder-oder, schwarz oder weiß, für oder gegen-Positionierung auf. Dabei verschwinden nicht nur sämtliche Grautöne - und werden damit unbesprechbar, sondern es werden selbstredend auch alle tatsächlichen und vermeintlichen Adepten des "schwarzen" Pols aus dem Diskurs ausgeschlossen.
Auch wenn wir diese Probleme im Workshop nicht lösen konnten, so zeugte das Feedback immerhin davon, dass wir einige erste Schritte dazu gegangen sind. Es reichte von
* „schön, mal einen Raum zu haben, wo man offener über das Thema reden kann“ über
* „motivierend, inspirierend, ermutigend, wieder stärker in den Dialog zu gehen“,
* „wohltuend, dass Spannungen zu integrieren sind“ bis hin zu
* „ich fühle mich gestärkt in meiner Lebenssituation, in der ich Rüstzeug brauche“.
Eine Teilnehmerin, die die „Erfahrung des offenen Raums“ positiv hervorhob, ergänzte: „es ist schon unglaublich, dass ich darüber sonst mit niemandem sprechen kann. Wie gut wäre es, sich darüber offener auszutauschen!“
Der nächste Workshop zum Thema findet am 18.6.2024 in Freiburg statt.
Nähere Infos und Anmeldung: https://www.ifis-freiburg.de/event/workshop-deep-democracy-vertiefung-der-demokratie-am-beispiel-des-umgangs-mit-der-afd