Reflektionen zu unserem Online-Kolloquium Nr. 71 am 12.6.2024
Indigenes Wissen – ein Begriff, der für viele von uns lange Zeit als Relikt einer vergangenen Ära abgetan wurde. Doch je mehr ich mich damit beschäftige, desto klarer wird mir, wie grundlegend dieses Wissen für die Bewältigung der Herausforderungen ist, denen wir uns heute gegenübersehen. In einer Welt, die sich selbst als modern und fortschrittlich beschreibt, muss man sich manchmal fragen, wie nachhaltig oder regenerativ dieser sogenannte Fortschritt wirklich ist. Die zahlreichen Versuche, den globalen Krisen zu begegnen – von der CO2-Reduktion bis hin zu globalen Abkommen – wirken oft wie das Herumdoktern an Symptomen, während die eigentlichen Ursachen unangetastet bleiben. Die Frustration darüber wächst, und mit ihr das Gefühl der Überforderung. Selbst die hartgesottensten Vertreter der Nachhaltigkeitsbewegung sind am Ende. Doch was, wenn der Schlüssel zur Lösung in einem ganz anderen Verständnis von Menschsein liegt?
Für mich wird immer deutlicher, dass wir unser Verhältnis zur Welt und unser Selbstverständnis grundlegend überdenken müssen. Anstatt uns auf schnelle, oberflächliche Lösungen zu konzentrieren, müssen wir die Frage stellen, wie wir unser Dasein auf diesem Planeten sinnvoll gestalten können – im Einklang mit den natürlichen Gesetzmäßigkeiten, die uns umgeben. Aber Moment mal, was sind diese „natürlichen Gesetzmäßigkeiten“ eigentlich? Und von welchen Gesetzmäßigkeiten gehen wir eigentlich aktuell aus? Viele von uns haben gelernt, dass die Welt ein unbelebter Ort ist, in dem wir um knappe Ressourcen kämpfen müssen. Doch genau dieses Paradigma führt dazu, dass wir immer tiefer in die Natur eingreifen und uns ungehemmt ihrer Ressourcen bedienen, als ob wir die einzigen wären, die hier etwas zu sagen hätten.
Interessant ist dabei, dass unser so hochgelobter Fortschritt, der sich in sozialen Errungenschaften wie dem Sozialstaat zeigt, vielleicht nur ein Pflaster auf einer tiefen Wunde ist. Ein Versuch, die Unberechenbarkeit des Lebens etwas zu mildern. Doch seien wir ehrlich: Während wir fleißig daran gearbeitet haben, unsere sozialen Sicherungssysteme auszubauen, haben wir gleichzeitig unsere Lebensgrundlagen zerstört, indem wir die Natur immer weiter ausbeuten. Wir haben uns tief von der Natur entfremdet, und das hat uns in eine kollektive Leere und Trauer gestürzt, die viele von uns gar nicht erst fühlen wollen, sondern sich permanent ablenken.
Es ist verständlich, warum wir uns vor diesem Schmerz verschließen – er ist gewaltig, und die Unsicherheit, wohin uns das Fühlen dieser Gefühle führen könnte, ist beängstigend. Viele Menschen entscheiden sich immer wieder bewusst oder unbewusst dafür, die Augen vor der Realität zu verschließen – sei es gegenüber der Zerstörung der Natur oder dem Schmerz über persönliche Verluste und zerbrochene Beziehungen. Diese Entscheidung, sich zu verschließen, entspringt oft der Angst, dass der Schmerz einfach zu groß ist und keine Veränderungsoption sichtbar scheint. Das eigene Innere wirklich zu fühlen und Geschehenes aufzuarbeiten, ist leider eine Aufgabe, die uns in unserer ach so zivilisierten Welt selten beigebracht wurde.
An dieser Stelle wird die Bedeutung des indigenen Wissens für mich besonders deutlich. Nehmen wir zum Beispiel die Kogi, ein indigenes Volk aus der Sierra Nevada de Santa Marta in Kolumbien. Die Kogi haben es geschafft, ihre Gesellschaft so zu strukturieren, dass die Menschen im Einklang mit der Natur und miteinander leben können. Sie sehen sich selbst als die „Älteren Brüder“, deren Aufgabe es ist, das Gleichgewicht der Erde zu bewahren. Ihr Wissen und ihre Rituale basieren auf einem tiefen Verständnis der natürlichen Zyklen und auf einer spirituellen Verbindung zur Erde, die sie als ein lebendiges, bewusstes Wesen betrachten.
Aber was genau gilt es denn, neu zu lernen, und was sind diese Prinzipien, die wir wieder verstehen müssen? Das Wichtigste ist, dass die Erde ein bewusstes Gegenüber ist. Die Kogi wissen sehr genau, wie man mit Wasser, Bäumen, Tieren, Steinen und Gedanken umgeht, wie man im Gleichgewicht mit der Erde lebt, und wie man soziale Rahmenbedingungen schafft, die gelingende Beziehungen und Gemeinschaften ermöglichen. Viele dieser Praktiken teilen sie mit uns, weil sie erkannt haben, dass wir „jüngeren Brüder und Schwestern“ dieses Wissen schlicht verloren haben.
Das Besondere am Wissen der Kogi ist, dass es nicht einfach um Nachahmung geht. Ein Missverständnis wäre es zu glauben, wir müssten nur das umsetzen, was die Kogi praktizieren, um unsere Probleme zu lösen. Es geht nicht um kulturelle Aneignung oder darum, einfach das, was bei ihnen funktioniert, blind auf uns zu übertragen. Vielmehr geht es darum, unsere eigenen Traditionen und das uns hinterlassene Wissen zu entdecken und neu zu interpretieren. Die Kogi sagen treffend: „Alles Wissen liegt an den Orten, in denen wir geboren wurden, und wie wir mit diesen Orten umgehen sollen, wurde auch dort hinterlassen.“
Aber mal ehrlich, wenn man keine Kultur hat, die dieses Wissen überliefert, wo fängt man da an? Es wäre doch so verführerisch zu sagen: „Lasst uns einfach das tun, was die Kogi tun!“ Das scheint eine schnelle Lösung zu sein, die auf den ersten Blick wunderbar passt. Doch wie alles, was zu einfach klingt, ist auch das nur eine Illusion. Die Umsetzung dieses Wissens erfordert eine tiefe Auseinandersetzung und eine genaue Betrachtung dessen, was für unseren jeweiligen Ort und die dort lebenden Menschen das Richtige ist. Es bedeutet, mit einer neuen Sensibilität heranzugehen und zu prüfen, ob etwas wirklich stimmig ist. Es geht darum, die jeweiligen, universell gültigen Prinzipien anzuwenden und in die lokalen Gegebenheiten einzubinden. Die Kogi sagen, dass ihnen ihr Wissen in Höhlen übermittelt wird. Ein lustiger Gedanke – wir lassen uns von den Höhlen wieder beibringen, wie man mit der Erde umgeht?! Da fängt es schon an: Wie spreche ich mit einer Höhle? Ein Kogi-Mamo (ein Schamane) hat mir darauf geantwortet, dass ich einfach nur mit innerer Ruhe in eine Höhle gehen solle, und dort werde sie dann schon zu mir sprechen.
Für mich ist das alles eine tiefe Einladung zur Veränderung, die ich nicht mehr ignorieren kann. Es braucht Mut, Demut und die Bereitschaft, alte Überzeugungen loszulassen, sich auf neue, unbekannte Wege einzulassen und sich einzugestehen, dass unser „zivilisiertes“ Selbstbild vielleicht doch nicht so fortschrittlich ist, wie wir gerne glauben möchten. Vielleicht sind wir es, die Entwicklungshilfe benötigen – eine Entwicklungshilfe, die uns nicht von der Spitze der technologischen Innovationen kommt, sondern aus den tiefen Wurzeln einer Weisheit, die wir lange ignoriert haben.
Es ist an der Zeit, uns selbst infrage zu stellen und offen zu sein für das, was wir von indigenen Kulturen lernen können. Vielleicht ist das der erste Schritt, um wirklich in Einklang mit der Natur zu leben und Verantwortung für die Zukunft unseres Planeten zu übernehmen. Denn eines ist klar: Wir können uns nicht länger vormachen, dass wir die Herren dieser Erde sind, die alles im Griff haben. Es gibt viel zu (ver)lernen, und bestimmt auch so viel wiederzuentdecken. Und genau das macht diese Reise so notwendig und zugleich so aufregend.
Ich zieh mich schonmal warm an, wir sehen uns dann bald in der Höhle!
Anna Reisch arbeitet an der Schnittstelle von neuem ökonomischem Denken und innovativer Organisationsentwicklung, u.a. war sie Strategie- und Organisationsberaterin für THE NEW INSTITUTE, das Dezernat Zukunft und das ZOE-Institut. Weiterhin ist sie als Dozentin an der Universität Witten-Herdecke zu "System Change and Climate Change" und der HWR Berlin zu "Sustainable Finance" tätig. Seit einiger Zeit beschäftigt sich Anna intensiv mit indigenen Kulturen, insbesonder den Kogi, und ihrem Wissen über regenerative Lebensweisen. Gemeinsam mit ihrem Partner baut sie derzeit die Timeless Wisdom Academy auf.