Als Vorbereitung für ein Interview mit dem Institut für integrale Studien (demnächst auf YouTube) habe ich meine Gedanken strukturiert, was gute Ansätze für einen integraleren Journalismus sein könnten.
Ich benutze das Wort integral im weitesten Sinne mit der Bedeutung ganzheitlich. Oder, ausführlicher: Es geht mir um einen Journalismus, der viele (auch scheinbar widersprüchliche) Aspekte und Perspektiven berücksichtigt und sie anhand höherer Ordnungsprinzipien priorisiert.
Ein solches Ordnungsprinzip könnte der Utilitarismus sein, also das Ziel, das möglichst viele Akteure, Institutionen und Teilsysteme dem Wohle möglichst vieler Lebewesen dienen.
Der Journalismus, der laut Niklas Luhmann ein wichtiges Teilsystem des größeren Systems Gesellschaft ist, könnte sich meines Erachtens vor allem in einem Punkt dienlich machen: Er hat großen Einfluss auf die Debattenkultur, also auf die Art und Weise, wie wir Diskurse führen und wie wir mit Unterschieden und Konflikten umgehen.
Massenmediale Formate wie “Maischberger” oder SPIEGEL-Streitgespräche haben, wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen betont, immer auch eine Vorbildfunktion. Wenn sich allabendlich Politikerinnen und Experten in Talkshows duellieren, wenn es dabei oft vor allem ums Rechthaben geht, und wenn die Moderierenden beim Umgang mit Konflikten eher noch Öl ins Feuer gießen, dann normiert das eine Debattenkultur, mit der sich komplexere Probleme nicht mehr lösen lassen.
Erderhitzung, Corona, globale Migration, etc. erfordern nämlich Lösungen, die sehr viele unterschiedliche Perspektiven zusammendenken (und die ein einzelner eher selten allesamt sieht und berücksichtigt). Entsprechend hilfreich wäre es, wenn Massenmedien künftig eine konstruktivere Debattenkultur normieren, die auf eine Synthese verschiedener Sichtweisen hinarbeitet.
Folgende fünf Leitlinien könnten helfen, sich einem solchen Journalismus etwas anzunähern.
1. AQAL-Ansatz nach Ken Wilber
Der US-Philosoph hat eine metasystemische Theorie entworfen, laut der sich jedes Element dieser Welt, vielleicht sogar jedes Element des Kosmos, anhand von fünf Dimensionen beschreiben lässt. Für einen Journalismus, der viele Sichtweisen vereint, scheinen mir vor allem zwei davon hilfreich.
Wilber teilt die Welt, erstens, in vier Quadranten ein: innen und außen sowie individuell und kollektiv. Ein ausgewogener Text, müsste alle vier Quadranten berücksichtigen. Er könnte zum Beispiel beschreiben, wie ein Thema einen Menschen psychisch berührt (individuell innen), wie sich dieser Mensch verhält (individuell außen), welche kulturellen Werte und Normen in dem Thema stecken (kollektiv innen) und welche technischen, politischen oder ökonomischen Strukturen und Gesetze er mitprägen (kollektiv außen).
Wilbers zweite Dimension sind die sogenannten Entwicklungsstufen, die alle vier Quadranten gleichermaßen durchziehen und die viele Psychologinnen und Soziologen unabhängig voneinander festgelegt haben. Die Idee ist, dass die Entwicklung unserer Psyche (individuell) und Gesellschaft (kollektiv) in sich wechselseitig beeinflussenden Stufen erfolgt. Von einer archaischen Überlebenskultur (Steinzeit) bis zur pluralistischen Postmoderne waren es demnach, je nach Einteilung, sechs oder sieben große Stufen.
Ein journalistischer Beitrag, der möglichst viele Sichtweisen berücksichtigt, müsste zumindest Aspekte jener Stufen berücksichtigen, die momentan in unserer Gesellschaft am stärksten verbreitet sind: die Traditionelle, die Moderne und die Postmoderne.
2. Moderierende bis mediierende Haltung
Statt Konflikte zu betonen, sollte ein integraler Journalismus Diskussionsteilnehmerinnen dazu animieren, ihre partiellen Wahrheiten zusammenzudenken. Dabei können Techniken wie Polarity Management, zirkuläre Fragetechniken oder Elemente systemischer Aufstellungen genutzt werden.
Es scheint zudem hilfreich, die Funktionsweise des autonomen Nervensystems zu berücksichtigen, das in allen Säugetieren (nicht nur Menschen) am Wirken ist. Meinungsverschiedenheiten und Konflikte aktivieren stets den Sympathikus — der uns, vereinfacht gesagt, in den Flucht-und-Kampfmodus versetzt. (Bei Rechthabereien in Talkshows ist das regelmäßig zu besichtigen.)
Journalistische Formate, die das Zusammendenken verschiedener Perspektiven fördern möchten, dürften besser funktionieren, wenn sie den ventral-vagalen Teil des Parasympathikus aktivieren. Dieser steigert unter anderem unsere Kooperationsfähigkeit und unser Vermögen, emotionale Zustände aus Gesichtern abzulesen.
Hilfreich zur Stimulation des Vagusnervs sind unter anderem Spiele und Spaziergänge. Experimentelle TV-Formate wie “Der Raum” nutzen solche Techniken bereits. Ich selbst habe schon öfter konstruktive journalistische Streitgespräche bei Spaziergangängen geführt.
3. Narrative verkomplizieren
Ein integralerer Journalismus sollte prüfen, wann er wirklich selbst eine Geschichte erzählt— und wann eine Geschichte eher ein Narrativ wiederholt, das die Autorin oder der Autor unbewusst übernommen haben.
Das passiert nach meiner Erfahrung weit öfter, als man denkt. Und es hat einen entscheidenden Nachteil: Narrative erzeugen blinde Flecken. Sie grenzen Nuancen und Perspektiven aus, die für den zu beschreibenden Sachverhalt vielleicht wichtig wären.
Es ist problematisch, wenn man solche Sachverhalte weglässt, weil sie vermeintlich “nicht zur Geschichte passen”.
Wie es besser geht, hat die US-Journalistin Amanda Ripley in einem sehr lesenswerten Essay beschrieben.
4. Ökozentrische Weltsicht
Laut der entwicklungspsychologischen Theorie der Stufenentwicklung weitet sich die eigene Weltsicht zunehmend aus. Vereinfacht gesagt fühlt man sich nach und nach mit immer größere Kollektiven verbunden. Die Entwicklungslinie lässt sich grob so skizzieren:
- egozentrisch (“Ich”)
- ethnozentrisch (z.B. “meine Clique/Gruppe/Zunft”, “mein Vaterland”)
- globalzentrisch (z.B. “meine internationale Forschergemeinde”, “meine internationalen Gesinnungsgenossen und Partner zum Erreichen meiner Ziele”)
- antropozentrisch (alle Menschen, egal welcher Gesinnung)
- ökozentrisch (alle Lebewesen auf diesem Planeten)
- kosmozentrisch (die gesamte Evolution im ganzen Kosmos vom Urknall an).
Laut dem Psychologen Lawrence Kohlberg erweitert sich mit dem Gefühl der Verbundenheit für immer größere Kollektive auch unser Moralempfinden: Alles, was praktiv “zu mir gehört”, behandle ich demnach so, wie ich auch selbst behandelt werden möchte.
Ein integraler Journalismus würde sich allen Lebenwesen auf diesem Planeten widmen und Themen wie Tierwohl oder Artenvielfalt deutlich höher gewichten als es derzeit der Fall ist.
5. Den eigenen Bezugsrahmen transparent machen
In der Systemtheorie unterscheidet man zwischen Beobachtungen 1. und 2. Ordnung. Beobachtungen der 1. Ordnung sind analytisch: Man zerlegt ein Thema, grob gesagt, in Aspekte und Unteraspekte, beleuchtet die Zusammenhänge zwischen diesen und fällt am Ende ein Urteil.
Beobachtungen 2. Ordnung widmen sich indes dem Bezugsrahmen. Es wird nun der Beobachter selbst beobachtet. Es geht um die Frage: Welche Aspekte seiner Biografie, und kulturelle Prägung, seiner aktuellen Entwicklungsstufe, seines Persönlichkeitstyps, etc. prägen die Perspektive, aus der jemand eine Analyse macht? Welche Schwerpunkte und Begrenzungen hat diese Perspektive? Welche blinden Flecken ergeben sich aus der speziellen Art, die Dinge zu beobachten?
Ein integralerer Journalismus würde versuchen, den eigenen Bezugsrahmen immer wieder transparent zu machen. Er würde betonen, dass die eigene Analyse sicher blinde Flecken hat. Dass sie manches anders gewichtet als es ein anderer Analysierender vielleicht täte. Ein solcher Sprachstil dürfte sich erheblich vom aktuellen Duktus vieler journalistischer Beiträge unterscheiden, der Lesern eher vorgaukelt, dass die Autoren die Wahrheit für sich gepachtet haben.
Gleichzeitig müsste ein solch neuer Sprachstil eine gute Balance zwischen Relativierung und Klarheit finden. Sonst kämen dabei wohl recht unlesbare Texte heraus.
Eine illustrierte Version dieses Beitrags findet sich hier.