Auf dem Weg zu einer integralen politischen Kultur

Integraler Politischer Salon 3

Integraler Politischer Salon Nr. 3:

Wie lässt sich eine neue (integral informierte) politische Kultur schaffen – und wie bringen wir sie in die Praxis?

Diese Frage stand im Zentrum des dritten integralen politischen Salons. Dazu hatten sich am 15. September 2021 knapp 20 Teilnehmer/innen aus verschiedenen integralen und integral informierten bzw. interessierten Kreisen versammelt, wobei die Anwesenden ein breites Spektrum zwischen integraler politischer Theorie und Praxis vertraten, darunter Politikwissenschaft, Parteipolitik und bürgerschaftliche Engagement. Unter den Anwesenden waren unter anderem eine Bundestagskandidatin, ein Vorstandsmitglied der österreichischen Partei „Die Basis“, 3 Mitglieder der IP Schweiz, ein Journalist sowie eine Reihe von Demokratie-Aktivisten, Moderatoren und Organisationsentwicklern.

Viele der Teilnehmer/innen waren bereits bei den ersten beiden Salons dabei, so dass sich hier allmählich bereits ein Feld aus Interessierten herausbildet, das sich in den Salons eine gemeinsame Kultur erarbeitet, diese reflektiert und an konkreten Herausforderungen aus dem Alltag praktisch erprobt.

Während dies im Zuge der Salontreffen gleichsam als „intendierter Nebeneffekt“ passiert, beschäftigte sich dieser Salon auch explizit mit dem Thema integrale politische Kultur. Den Anstoß dazu gab die Frage eines Teilnehmers im Vorfeld, wie unter dem Eindruck des Bundeswahlkampfs und der Kandidaten-Trielle mehr integrale Qualität in politische Dialogprozesse zu bringen wäre, ebenso wie in die politische Meinungsbildung und Bildung insgesamt (siehe dazu auch das Video von Veit Lindau).

„Wie wäre es“, so fragte Karsten Beuchert, „wenn ein erfahrener U-Prozess-Moderator/-Facilitator die Kanzlerkandidat:innen (statt zu einem Triell o. ä.) zu einem U-Prozess nach Otto Scharmer einlüde, zu Fragen wie ‚Wie sehen lebensförderliche Perspektiven für Deutschland aus (als Teil von Europa und der Welt)?‘ und wenn die ‚Kontrahent:innen‘ dann daran „gemessen“ würden, wie gut sie sich auf das Thema und den Prozess und vor allem aufeinander einlassen (können)?“ Auch die Nicht-Teilnahme an einem solchen Format wäre in diesem Fall bereits eine politische Aussage. Ähnliche Formate, so Karstens Anregung, könnten alternativ auch auf lokaler Ebene durchgeführt werden.

Im Salon leuchteten wir daraufhin verschiedene Aspekte und Dimensionen dieser Frage aus. Als ein Grundton dieser Erkundung kann die Bemerkung eines Teilnehmers aus der Abschlussreflektion gelten: „Ich fühle mich sehr wohl hier, es ist eine Umgebung, in der ich mir erlaube, mich auszudrücken. (…) Es tut mir gut, sanft und entspannt zu sein. Das täte auch der Politik gut.“

Dem stand die Beobachtung entgegen, dass tiefere (als nur materielle) Bedürfnisse im politischen Diskurs eigentlich kaum Platz haben. Ja, es sei geradezu tabuisiert, im öffentlichen Raum über persönliche Bedürfnisse zu sprechen. Man könnte sich eine Blöße geben – oder sich gar verletzlich machen. – Könnte es sein, dass diese Strukturmerkmale der heutigen Öffentlichkeit dazu führen, dass Menschen es ver- oder gar nicht erst erlernen, bestimmte innere Bedürfnisse überhaupt wahrzunehmen?

Die Partei Integrale Politik Schweiz propagiert in ihrem Grundlagenpapier ein integrales Menschenbild, in dem, an Aurobindo angelehnt, vier Bedürfnisarten gleichberechtigt gewürdigt werden: physisch-materielle, emotional-interpersonelle, kognitiv-mentale und geistig-spirituelle Grundbedürfnisse. Die weitgehende Reduzierung der heutigen politischen Agenda auf die erste und (in geringerem Umfang) die dritte Bedürfnisart impliziert in diesem integralen Verständnis eine „Entmenschlichung“. Denn sie bringt nicht nur dysfunktionale Problemlösungen hervor (etwa den Versuch, emotionale und spirituelle Bedürfnisse über materiellen Konsum zu stillen bzw. zu kompensieren), sondern entfremdet Menschen damit auch von sich selbst.

Demgegenüber erscheint aus Sicht einer integralen Politik eine „neue Qualität des Zuhörens“ (Roland Jaritz) vordringlich, die sich nicht nur auf Bürgersprech- und Fragestunden beschränkt, sondern die aktiv (subtile und konkrete) Räume schafft, in denen Menschen (darunter auch die Politik selbst) sich und andere mit ihren tieferen Bedürfnissen wieder umfassender wahrzunehmen wagen. Dieses Desiderat beschreibt etwa Hanzi Freinacht mit dem Begriff der „Zuhörenden Gesellschaft/Listening Society“.

Damit eng verbunden ist die Frage, was eigentlich ein gutes Leben ist, das für möglichst viele Menschen zu ermöglichen alle Politik ja verpflichtet sein sollte. Ansätze wie eine Fokusverschiebung vom Bruttosozialprodukt zum „Bruttonationalglück“ (Bhutan), vom materiellen zu innerem Wachstum und Reichtum (Bewegung Neue Kultur) oder Vivian Dittmars Konzept des „echten Wohlstands“, der sich nicht zuletzt aus gelingenden Beziehungen, aus gemeinsamem sinnvollem Tun und aus echter Verbundenheit mit anderen ergibt, weisen hier die Richtung.

Gerade in Zeiten des Klimawandels, die uns zu einer massiven Reduktion unseres materiellen Naturverbrauchs – und ergo Konsums – zwingen, kann eine Neujustierung unserer kollektiven und politischen Aufmerksamkeit auf die bisher vernachlässigten Bedürfnisdimensionen im Dienst an mehr ganzheitlicher Lebensqualität etwaige materielle Wachstumseinbußen höchstwahrscheinlich erheblich kompensieren.

Bis dahin ist es freilich noch ein weiter Weg. Wenngleich diese Thesen sich dem Vernehmen nach immer größerer Resonanz erfreuen, sind sie bisher noch nicht zu einer mehrheitsfähigen politisch-kulturellen Kraft geworden. An den Rändern des politischen Systems sind gerade bei dieser (post) Corona-Bundestagswahl zahlreiche neue Gruppierungen mit GRÜNem Anspruch entstanden. Doch macht einstweilen „jeder seine eigene Kleinpartei auf – damit ist im aktuellen System natürlich kein Blumentopf zu gewinnen“, so Wulf-Mirko Weinreich.

In diesem Zusammenhang ist auf ein strukturelles Problem, dass die Logik unseres heutigen Parteiensystem Kooperation nicht unbedingt fördert, sondern zumindest bei den Wahlen einstweilen jede und jeder für sich – und damit gegen alle anderen kämpft. Zu Recht wiesen einige Teilnehmende auch darauf hin, dass dieses System bestimmte Arten von Personen nach oben spült, mit den Worten der Bundestagsdirektkandidatin Gabriele Ermen: „Ellenbogen-Typen begünstigt“.

Der SPIEGEL-Journalist Stefan Schultz erklärte dies aus der Entstehung des Parlamentarismus im 17. Jahrhundert, einer Zeit, als die politische Kultur noch stärker von „Experten“ (im Modell von Loevinger/Cook-Greuter) bestimmt war: „jeder will Recht haben und alle anderen davon überzeugen. So löst man aber keine globale Klimakrise.“

Und nun? Die Frage, wie wir das alles ändern könnten, möchten wir in einem der nächsten Salons konkreter angehen, mit einem praktischen Experiment zu einem integralen Medienformat.

Wenngleich es in diesem Salon keine Intervision gab, fielen die abschließenden Reflektionen und Feedbacks doch überwiegend positiv aus:

„Ich fühle mich sehr wohl hier, eine Umgebung, in der ich mir erlaube, mich auszudrücken.“

„Wir sind auf einem guten Weg, hat Spaß gemacht.

„Sehr bereichernder Austausch, angenehme Atmosphäre. Teilresonanz ist ok, mehr wäre sehr viel verlangt. Es gibt noch mehr Potenzial. Vielleicht wächst da was zusammen.“

„Gute Basis dafür, dass sich integrale Politik auch in Österreich und Deutschland mehr Raum schafft.“

„Spannender Abend, viele Anregungen. Nachdenken über meine eigene politische Rolle und Funktion“

Kritisch wurde angemerkt, dass es diesmal keine Kleingruppen gab, sowie ein trotz allem „stark analysierendes Vorgehen“, verbunden mit dem Wunsch, mehr über uns selbst und unsere Bedürfnisse zu sprechen.

Tja, der Anspruch des walking our talk ist eine permanente Aufgabe. Wir bleiben dran J

Dr. Elke Fein, IFIS

 

Nächster Termin:

20.10.2021, 19-21h

Infos unter https://www.ifis-freiburg.de/aktivitaeten/geplante-veranstaltungen