Integraler politischer Salon Nr. 4:
Wie kann Demokratie integraler werden? Und was können wir dazu beitragen?
„Wir können unseren Politiker:innen nicht länger die Schuld für ein systemisches Versagen geben.“ (Indy Johar & Caroline Paulick-Thiel)
Dieser Satz aus dem neusten Blogpost von Politics for Tomorrow ist in innovativen Politik-Kreisen immer öfter zu hören bzw. zu lesen. So etwa auch im Kontext des Projekts „Vertiefung der Demokratie“ von Mehr Demokratie, das unter der Leitung von Josef Merk derzeit mit Demokratieaufstellungen tiefere Schichten dessen erkundet, was in unseren Systemen schief läuft.
„Die Demokratie“, so schreiben etwa Projektleiter Dr. Josef Merk und Vorstandsmitglied Susanne Schocher, „ist ein großer Prozess, der aus vielen kleineren Prozessen besteht, deren Akteure voneinander abhängen und sich gegenseitig beeinflussen, direkt wie indirekt“ (Merk/Schocher 2021b, S. 9). Und weiter: „Könnte es sein, dass auch wir als Bevölkerung und Zivilgesellschaft zur aktuellen Starre im System beitragen, indem wir schlecht über ‚die‘ Politiker:innen denken und reden? Möglicherweise ist ein wichtiger Beitrag zur Transformation des demokratischen Miteinanders, dass wir unsere Blicke auf Politiker:innen verändern, ihn respektvoller und menschlicher werden lassen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass auch die Politiker:innen von einer hohen Intention geleitet sind und ihnen zutrauen, dass sie einen tiefen Wunsch nach Weiterentwicklung von Demokratie jenseits des eigenen Machterhalts haben, dann können wir gemeinsam Zukunft gestalten“ (Merz/Schocher, 2021a, S. 23)
Die Frage, wie sich unsere Demokratien vertiefen – und weiterentwickeln lassen, stand auch Pate im vierten integralen politischen Salon. Konkret wurde eine Initiative zu einem Volksbegehren für mehr Bürgerbeteiligung in Kärnten vorgestellt, mit dem Anliegen, dieses integraler zu machen. Als ein zentrales Thema kristallisierte sich dabei die Herausforderung heraus, alle relevanten Akteure so in den Prozess einzubinden, dass die Initiative nicht als ein Projekt „gegen die Regierenden“ verstanden, sondern eine überparteiliche Kooperation von Bürgern und Gemeinderat ermöglichen würde.
„Die Erneuerung unserer gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse erfordert eine Reihe von Veränderungen des bestehenden institutionellen Rahmens. Dabei gilt es nicht nur das Bestehende zu ändern, sondern auch unsere öffentliche Vorstellungskraft zu weiten.“ (Johar/Paulick-Thiel)
Wie so oft bei diesem Thema tauchte auch im Zuge unseres Austauschs die Frage auf, inwieweit eine neue Politik eher innerhalb oder eher am Rande (oder sogar außerhalb) des bestehenden politischen Systems entstehen könnte oder sollte. Dabei bewegten wir uns zwischen zwei Polen: zum einen der Idee, Bürgerbeteiligung als ein viertes Instrument in die (österreichische) Bundesverfassung aufzunehmen, zum andern Vaclav Havels Vision einer Parallel Polis – der Schaffung eines Raums für informierte, unbürokratische, dynamische und offene Gemeinschaften, die sich unabhängig vom Staat entwickeln könnten.
„Die Art und Weise, wie wir unsere wirtschaftlichen und demokratischen Systeme gestalten, ist entscheidend, um einen gesellschaftlichen und ökologischen Zusammenbruch zu vermeiden. Die Demokratisierung unserer Fähigkeit, sich mit der Welt auseinanderzusetzen, ist wegbereitend für eine postindustrielle Demokratie. (…) Anstatt einen gesellschaftlichen Zusammenbruch zu verwalten, ist es an der Zeit unsere demokratischen Institutionen für einen kollektiven Durchbruch auszustatten. Wenn wir es nicht schaffen, sie zu erneuern, werden sie uns im Stich lassen. (…) Wir, die Gesellschaft, müssen einen Wechsel im öffentlichen Management fordern — von militärischen Kontrollmodellen zu organisatorischen Lernansätzen.“ (Johar/Paulick-Thiel)
In der Reflektions- und Resonanzrunde am Ende unseres Salons stellen wir uns die Frage, wie integral wir selbst an diesem Abend unterwegs waren. Dabei gab es einerseits viel positives Feedback zur Gesprächsqualität und dem Format („sehr anregender Austausch“, „viele Anregungen, ich gehe bereichert raus“, „achtsames Gespräch, gutes Zuhören ist nicht selbstverständlich“, „ein Beispiel für miteinander-können-lernen“, „ich fand’s einfach nur schön mit euch“).
Andererseits wurde neben Bewunderung und Hochachtung für den Themengeber und dessen Beteiligungsprojekt von mehreren Teilnehmenden auch eine gesunde Portion Selbstkritik geäußert: „Für mich war der Salon ein Stück Schattenarbeit: Ich kümmere mich um die ganze Welt, aber nicht um meine eigene Stadt. Zwar lebe ich in der Stadt, aber nicht mit der Stadt. Das war für mich ein Tritt in den Hintern,“
Inwieweit haben wir selbst das Gefühl, politisch etwas bewirken zu können? Wenn wir – auch lokalpolitisch – nicht aktiv werden, finden wir es kaum heraus.
If you are not at the table, you are on the menu.
Quellen:
Indy Johar & Caroline Paulick-Thiel (2021): Auf dem Weg zu einer transformativen Demokratie. Die Neugestaltung gesellschaftlicher Entscheidungsprozesse geht uns alle an, https://medium.com/öffentliches-gestalten/auf-dem-weg-zu-einer-transformativen-demokratie-e876262ff140
Josef Merk/Susanne Socher (2021a): Deepening Democracy – Annäherung an eine neue Politik
Ein neues Forschungsprojekt versucht die Demokratie besser und tiefer zu verstehen, Mehr Demokratie Magazin, https://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/2021/2021-06-28_mdmagazin_03.21-web.pdf
Josef Merk/Susanne Socher (2021b): Demokratie aus einer psychologisch-systemischen Perspektive entwickeln. Thesen über unbewusste Zusammenhänge in unserer Gesellschaft (unveröffentlichtes Manuskript)