In unserem Online-Kolloquium Nr. 67 (21.2.2024) stand ein Thema und ein Projekt im Zentrum, das sehr eng mit unseren Kernanliegen verbunden ist: „Reinventing Society“ oder „die Gesellschaft neu erfinden“ auf der Grundlage eines paradigmatisch neuen, integralen Verständnisses davon, was alles möglich ist, wenn wir unsere Sichtweisen verändern und uns zusammentun.
Zu Gast waren Anna Reisch und Simon Mohn vom gemeinnützigen Think Tank – oder wie wir im Laufe des Abends korrigierten: Think-Sense-Do-Tank "Reinventing Society", der an diesen Themen nicht nur forscht, sondern dazu mit Bürger/innen und einschlägigen Stakeholdern in konkrete Prozesse geht.
Reinventing Society entstand 2020 als ein Reallabor, in dem Visionen einer regenerativen und nachhaltigen Gesellschaft erschaffen werden sollen. Das Projekt wurde insbesondere durch das 2023 erschienene Buch "Zukunftsbilder 2045" einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Darin werden die Ergebnisse von 17 Reallaboren auf kommunaler Ebene vorgestellt. Hierzu führte das Team von Reinventing Society in 16 Städten und Kommunen im deutschsprachigen Raum (D, AT, CH) ko-kreative Visionsprozesse durch, im Rahmen derer Bürger/innen gemeinsam konkrete Zukunftsbilder für ihre jeweiligen Städte und Gemeinden erarbeitet haben.
Wenngleich „Zukunftsbilder“ bei weitem nicht das einzige spannende Projekt von Reinventing Society ist (für weitere siehe etwa auch die Infothek für Realutopien), so ist es doch ein gelungenes Beispiel dafür, wie integrale Transformationsansätze in der Praxis angewendet und damit Veränderungen von unten angestoßen und begleitet werden können. Denn durch diese Prozesse entsteht neues Erfahrungswissen, während die Teilnehmenden gleichzeitig dazu eingeladen werden, bestehende, eingefahrene, eher „degenerative“ Denk- und Verhaltensmuster zu verlernen. Insbesondere die Annahme eines Getrenntseins von Mensch und Natur, die historisch zu einem ausbeuterischen Umgang mit natürlichen Ressourcen im Dienst materiellen Wachstums geführt hat, erweist sich immer deutlicher als dysfunktional.
Wie geht Reinventing Society nun vor, um den verbreiteten Untergansszenarien optimistischere Zukunftsnarrative entgegenzusetzen? Wie können positive Utopien generiert und mit Leben gefüllt werden? Generell ist Anna und Simon wichtig zu betonen, dass es nicht darum geht, eine „toxische Positivität“ zu verbreiten, sondern eine „pfadharmonische“, also im jeweiligen Kontext verankerte und dort als kongruent erlebbare. Hierzu setzen sie je nach Zielgruppe innere und/oder äußere Methoden transrationaler Arbeit ein, von denen wir im Kolloquium einige exemplarisch ausprobieren konnten. Wenn man die richtige Sprache findet, so das Fazit, gelingt es selbst Politikern (!) in solchen Prozessen, sich authentisch zu zeigen und nach neuen Logiken zu agieren.
Zum Ideal der Pfadharmonie gehört für Reinventing Society auch, sich selbst als integrale Organisation aufzustellen und sich kontinuierlich um innere Kongruenz und Kohärenz zu bemühen. Das bedeutet etwa, in einer Haltung der Ehrlichkeit und der „radikalen Neugier“ im eigenen Kern-Team regelmäßig miteinander zu ergründen, was im kollektiven Innenraum jeweils gerade wirklich da ist und so eine Art „soziale Alchemie“ zu einem integralen Bestandteil der Arbeitszeit zu machen. Es bedeutet die Selbstverpflichtung dazu, als Mensch mit allen eigenen Empfindungen und Herausforderungen ganz präsent zu sein – und sich den Teamkolleg/innen damit gleichsam zuzumuten. „Alles, was da ist, wird ausgesprochen und sei es ‚mein Bauch tut weh‘“, so der Tenor. Es gehe darum, „dem eigenen System zu trauen“, auch wenn Wahrnehmungen zunächst absurd erscheinen.
Dieser alchemische Forschungsprozess impliziert auch, ggf. Dinge sterben zu lassen, die nicht mehr stimmig sind („kill your darlings“). Im Ergebnis dieser Vorgehensweise könne es vorkommen, dass Vorschläge, die rational und strategisch als sinnvoll erscheinen, nicht weiterverfolgt werden, weil sie keine innere Lebendigkeit auslösen. So berichtet Simon etwa von einer Zeremonie, mit der das Team eine Utopie, die intern Spannung erzeugt hat, da sie nicht fundiert genug war, begraben hat, um in einer neuen Iterationsrunde eine Zukunftsvision der Regeneration mit einer stärkeren Anbindung an die Lebenswelten der Beteiligten zu schaffen. Die Wirkung dieser Teamkultur beschreibt Anna daher umgekehrt mit den Worten: „wir sind sehr schnell geworden, wir müssen nicht mehr so viel reden wie früher“.
Ziel der gemeinsamen inneren Arbeit von Reinventing Society war und ist es also, eine Organisation zu bauen und weiterzuentwickeln, „die das Neue hält“ und damit einen sicheren Raum und Rahmen für gesellschaftlichen Wandel bieten kann. Denn, so sind Anna und Simon überzeugt, um Gesellschaft auf der Basis eines neuen Paradigmas zu gestalten, muss man dieses auch selbst verkörpern (vgl. Grundprinzip 7 der Integralen Politik). Dies setzt mitunter voraus, dass die innovative Organisation zugleich auf einem stabilen Fundament in bestehenden systemischen Strukturen steht (Stichwort Finanzamt, Registergericht usw.). Damit ist das Projekt eine ermutigende Inspiration („Zuversichtsdünger“, wie es in einem der Check-outs hieß) für IFIS, wie auch für die Teilnehmenden des Online-Kolloquiums.
Mehr zu den Methoden von Reinventing Society demnächst in einem eigenen Blog.
Anna Reisch ist am 12.6.2024 erneut im IFIS Online-Kolloquium zu Gast, und zwar mit Eindrücken und Erkenntnissen aus ihrer Reise in die indigene Kogi-Kultur, die ihrer Ansicht nach noch vielfach unterschätzte Lösungsideen für zahlreiche Probleme des Klimawandels (etwa die drohende Wüstenbildung in vielen Weltregionen) bereithält. Wir freuen uns schon auf einen vertieften Austausch!